Willkommen zu unserer Januar 2022 Ausgabe des Öffentlichen Sektor Newsletters von Watson Farley & Williams.
THEMA DES MONATS
Produktspezifische Ausschreibung – Herausforderungen und aktuelle Anforderungen der Rechtsprechung
In jüngster Vergangenheit ergingen vermehrt gerichtliche Entscheidungen zu der Frage, ob und in welchen Fällen die Festlegung von produktspezifischen Merkmalen bzw. die Beschaffung eines bestimmten Produkts zulässig ist. Dies ist vor allem für Beschaffungen mit hohen technischen Anteilen wie z.B. in den Bereichen IT oder Medizintechnik von hoher praktischer Relevanz. Dabei ergibt sich ein Spannungsverhältnis zwischen dem Grundsatz der Produktneutralität und der Ausnahme der Produktfestlegungen. Denn: die Entscheidung „für“ etwas beinhaltet gleichzeitig die Entscheidung „gegen“ etwas anderes (OLG Brandenburg, Beschluss vom 8. Juli 2021 – 19 Verg 2/21).
Ausgangspunkt: Leistungsbestimmungsrecht und Pflicht zur produktneutralen Ausschreibung
Zunächst ist mit der Rechtsprechung (vgl. schon OLG Düsseldorf, Beschluss vom 22. Mai 2013 – Verg 16/12 und aktuell OLG München, Beschluss vom 25. März 2021 – Verg 4/21) zu betonen, dass das Vergaberecht nicht regelt, was zu beschaffen ist, sondern wie eine Leistung zu beschaffen ist, d.h. in welchem wettbewerblichen Rahmen eine Beschaffung stattfindet. Der Auftraggeber ist daher in der vorgelagerten Festlegung der Bedarfe grundsätzlich frei. Er entscheidet anhand der ermittelten Erfordernisse der Beschaffung im Einzelfall über den konkret zu vergebenden Auftrag, wobei er sich hierbei von technischen, wirtschaftlichen oder gestalterischen Erwägungen oder solchen der sozialen, ökologischen oder ökonomischen Nachhaltigkeit leiten lassen kann (OLG Celle, Beschluss vom 31. März 2020 – 13 Verg 13/19; OLG München, Beschluss vom 25. März 2021 – Verg 4/21). Die Bestimmung des konkreten Auftragsgegenstandes darf zur Gewährleistung eines ausreichenden Wettbewerbs grundsätzlich aber nicht die Wirkung haben, dass bestimmte Unternehmen bevorzugt und damit andere Marktteilnehmer benachteiligt werden (VK Rheinland, Beschluss vom 8. Juli 2019 – VK-18/2019 – B; EuGH, Urteil vom 10. Mai 2012 – C-368/10).
Daher besteht die grundsätzliche Pflicht zur produktneutralen Ausschreibung, die in § 31 Abs. 6 VgV bzw. § 23 Abs. 5 UVgO verankert ist. Kernaussage der Vorschrift ist, dass die Festlegung auf ein bestimmtes Produkt bei Erstellung der Leistungsbeschreibung unzulässig ist, „wenn dadurch bestimmte Unternehmen oder bestimmte Produkte begünstigt oder ausgeschlossen werden, es sei denn, [dies] ist durch den Auftragsgegenstand gerechtfertigt.“ Letzteren falls ist eine Einschränkung des Wettbewerbs hinzunehmen (vgl. BT-Drs. 18/7318, Seite 178).
Rechtfertigung von Produktfestlegungen – Leitlinien der Rechtsprechung
Beabsichtigt der Auftraggeber, das Produkt eines bestimmten Herstellers zu beschaffen oder (technische, umweltbezogene oder gestalterische) Merkmale in der Leistungsbeschreibung festzulegen, die nur von einem oder wenigen Herstellern erfüllt werden können, bedarf diese Einschränkung des Wettbewerbs einer Rechtfertigung. Die Rechtsprechung (OLG Brandenburg, Beschluss vom 8. Juli 2021 – 19 Verg 2/21; OLG München, Beschluss vom 25. März 2021 – Verg 4/21; VK Hessen, Beschluss vom 19. März 2021 – 69d-VK-41/2019; OLG München, Beschluss vom 26. März 2020 – Verg 22/19; OLG Celle, Beschluss vom 31. März 2020 – 13 Verg 13/19; OLG Rostock, Beschluss vom 12. August 2020 – 17 Verg 3/20; VK Südbayern, Beschluss vom 31. Januar 2019 – Z3-3-3194-1-35-10/18) führt dabei – nahezu gebetsmühlenartig – aus, dass die Festlegungen von Produktspezifika dann sachlich gerechtfertigt sind, wenn
- vom Auftraggeber dafür nachvollziehbare objektive und auftragsbezogene Gründe angegeben worden sind und die Bestimmung folglich willkürfrei getroffen worden ist,
- solche Gründe tatsächlich vorhanden (festzustellen und notfalls erwiesen) sind und
- die Festlegung andere Wirtschaftsteilnehmer nicht diskriminiert.
Die Rechtsprechung gesteht dem Auftraggeber bei der Frage, wann solche nachvollziehbaren objektiven und auftragsbezogene Gründe vorliegen, einen nur beschränkt überprüfbaren Beurteilungsspielraum zu (OLG München, Beschluss vom 9. März 2018 – Verg 10/17; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 16. Oktober 2019 – VII-Verg 66/18). Die Darlegungs- und Beweislast für die Notwendigkeit einer herstellerbezogenen Leistungsbeschreibung liegt beim öffentlichen Auftraggeber, sodass er im Zweifel begründen muss, weshalb genau die Produktfestlegung erforderlich war. Die Entscheidung muss daher nachvollziehbar begründet und dokumentiert sein, wenngleich eine vorherige Markterkundung, ob eine andere Lösung möglich ist, nicht erforderlich ist (OLG Celle, Beschluss vom 31. März 2020 – 13 Verg 13/19; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 16. Oktober 2019 – VII-Verg 66/18; OLG Rostock, Beschluss vom 17. Juli 2019 – 17 Verg 1/19).
Konkrete Anforderungen an die Produktfestlegung
Diese Formel gibt freilich noch keinen Aufschluss darüber, in welchem konkreten Fall die Festlegung auf ein bestimmtes Produkt bzw. auf bestimmte Merkmale gerechtfertigt ist. Die Formel ist vielmehr mit Leben zu füllen. Hier lassen sich allenfalls aus der Rechtsprechungspraxis Richtungen ableiten. So entschied das OLG Düsseldorf (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 16. Oktober 2019 – VII-Verg 66/18; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 31. Mai 2017 – Verg 36/16; jüngst auch VK Hessen, Beschluss vom 19. März 2021 – 69d-VK-41/2019), dass eine Produktfestlegung dann gegeben ist, wenn
„dadurch im Interesse der Systemsicherheit und -funktion eine wesentliche Verringerung von Risikopotentialen (Risiko von Fehlfunktionen, Kompatibilitätsproblemen, höherem Umstellungsaufwand) bewirkt wird. Der öffentliche Auftraggeber darf in diesem Fall – insbesondere in sicherheitsrelevanten Bereichen – jedwedes Risikopotential ausschließen und den sichersten Weg wählen.”
Das OLG Brandenburg sah die Festlegung auf Produkte der Firma Apple bei der Lieferung von Tablets für den täglichen Schulbedarf als gerechtfertigt an, wenn
„die neu zu beschaffende Ausstattung mit weiteren Endgeräten […] sich technisch und organisatorisch nahtlos in die seit Jahren implementierte, erprobte, bedarfsgerecht weiterentwickelte und speziell auf die Nutzungsanforderungen der Schulden ausgerichtete IT-Infrastruktur einfügen [sollten]. Es bestehe aus organisatorischen und wirtschaftlichen Gründen das Bedürfnis, die vorhandene IT-Struktur ohne größeren Investitions- und Verwaltungsaufwand zu nutzen.“
In einem jüngst veröffentlichten Beschluss sah das OLG München (Beschluss vom 25. März 2021 – Verg 4/21) bei der Beschaffung von LKW für den Winterdienst eine Produktfestlegung als gerechtfertigt an, wenn hierdurch Sicherheitsrisiken, insbesondere im Straßenverkehr, gemindert und die Nutzerfreundlichkeit erhöht würde.
Hinweise für die Praxis
Zu beachten ist zunächst, dass für jede Produktfestlegung und damit in jedem Einzelfall genau zu prüfen und zu dokumentieren ist (zu den Dokumentationserfordernissen OLG Celle, Beschluss vom 31. März 2020 – 13 Verg 13/19), ob diese gerechtfertigt werden kann. Insofern verbieten sich hier pauschale Wiederholungen der Ausführungen zu den von der Rechtsprechung anerkannten Fällen.
Weiterhin ist in der Rechtsprechung die Tendenz erkennbar, dass subjektive Gründe wie z.B. die Nutzerfreundlichkeit, die Erhöhung der Sicherheit, Vermeidung von Schulungen für das mit dem Beschaffungsgegenstand betraute Personal oder die zukünftige Kompatibilität bei Erweiterung eines Gesamtsystems als objektive Gründe gelten lassen will. Insofern findet dort eine Verobjektivierung dieser Gründe statt, nämlich dann, wenn die Gründe einem objektiven Dritten unmittelbar einleuchten (OLG München, Beschluss vom 25. März 2021 – Verg 4/21; OLG Brandenburg, Beschluss vom 8. Juli 2021 – 19 Verg 2/21), sodass hierdurch Produktfestlegungen gerechtfertigt im Einzelfall werden können.
Von der Frage der Produktfestlegung zu trennen ist grundsätzlich die Frage der Wahl der Verfahrensart. Nicht selten wollen Auftraggeber hier mit wenigen oder sogar nur mit einem Unternehmen verhandeln, nämlich im Fall eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb gemäß § 14 Abs. 4 Nr. 2 b) VgV. Die Wahl dieser Verfahrensart ist damit ausnahmsweise mit der Frage verknüpft, ob der Auftraggeber zulässigerweise technische Gründe, aufgrund derer kein Wettbewerb vorhanden ist i.S.d. § 14 Abs. 4 Nr. 2 b) VgV, festlegen durfte, sodass dann die obigen Ausführungen gelten. Hinzukommt in diesem Fall die Hürde des § 14 Abs. 6 VgV, sodass spätestens hierdurch ein Verhandlungsverfahren mit nur einem Bieter kaum zulässig sein dürfte, insbesondere dann, wenn ein Distributorenwettbewerb vorhanden ist.
Gerade wenn Beschaffungsvorhaben unter Inanspruchnahme von Fördermitteln umgesetzt werden, ist ein besonderes Augenmerk auf ein rechtskonformes Vorgehen bei etwaigen Produktfestlegungen zu legen, da ansonsten eine Rückforderung der Zuwendungen droht. Unabhängig davon muss stets auch verhandlungstaktisch berücksichtigt werden, dass eine „produktscharfe“ Ausschreibung zu weniger Wettbewerb führt.