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Angesichts der Auswirkungen der Coronakrise auf das (öffentliche) Leben und den dringend anstehenden Beschaffungen in verschiedenen Bereichen der öffentlichen Hand hat das Bundeswirtschaftsministerium (BMWI) kurzfristig reagiert und mit Rundschreiben vom 19. März 2020 („Rundschreiben“) den Rahmen für beschleunigte und interimistische Beschaffungen nach dem geltenden Haushalts- und Vergaberecht vorgegeben. Diese Handreichung soll die öffentliche Hand in die Lage versetzen, die Bedarfe zur Aufrechterhaltung der Aufgabenwahrnehmung schnellstmöglich decken zu können.
Der Leitfaden skizziert
- den aktuellen Rechtsrahmen für Beschaffungen und die derzeit geltenden Schellenwerte,
- die allgemeinen und besonderen Ausnahmen vom Anwendungsbereich des Vergaberechts sowie
- die bestehenden Spielräume infolge der Coronakrise für die Beschaffung von Liefer- und Dienstleistungen.
Übersicht über aktuellen Rechtsrahmen für Beschaffungen
Die Ausführungen im Leitfaden beziehen sich auf die Beschaffung von Liefer- und Dienstleistungen oberhalb der festgelegten maßgeblichen Schwellenwerte (sog. Oberschwellenvergaben), können aber auch auf sog. Unterschwellenvergaben übertragen werden.
Der aktuelle Rechtsrahmen im Überblick:
Seit dem 1. Januar 2020 gelten folgende EU-Schwellenwerte:
Auftragsart | Schwellenwert in EUR (netto) |
---|---|
Bauaufträge | 5.350.000,00 |
Bau- und Dienstleistungskonzessionen | 5.350.000,00 |
Liefer- und Dienstleistungsaufträge (Sektorenauftraggeber, Verteidigung / Sicherheit) | 428.000,00 |
Liefer- und Dienstleistungsaufträge („klassische“ öffentlichen Auftraggeber) | 214.000,00 |
Liefer- und Dienstleistungsaufträge (oberste und obere Bundesbehörden sowie vergleichbare Einrichtungen) | 139.000,00 |
Ausnahmen vom Anwendungsbereich des Vergaberechts
Unabhängig von der gegebenen Krisensituation sieht das Vergaberecht verschiedene allgemeine und besondere Ausnahmetatbestände vor, die dazu führen, dass Leistungen nicht ausgeschrieben werden müssen. Unter gewissen Voraussetzungen gilt dies z.B. für die Anmietungen zusätzlicher Grundstücke oder Gebäude oder auch für Dienstleistungen des Katastrophenschutzes, des Zivilschutzes und der Gefahrenabwehr. Auch die Zusammenarbeit von öffentlichen Stellen im Wege der interkommunalen Kooperation oder durch die Auftragsvergabe innerhalb von sog. Inhousestrukturen z.B. bei Gemeinde- und Stadtwerken sowie öffentlichen Servicegesellschaften kann im Einzelfall vom Anwendungsbereich des Vergaberechts ausgenommen sein. Ist einer der gesetzlichen
Ausnahmetatbestände einschlägig, so ist eine unmittelbare Beauftragung von Leistungen ohne vorheriges Vergabe- bzw. Auswahlverfahren grundsätzlich möglich.
Bestehende Spielräume infolge der Coronakrise
Angesichts der gegebenen Krisensituation – sofern eine gesetzliche Ausnahme vom Anwendungsbereich des Vergaberechts nicht gegeben ist – sollten die haushalts- und vergaberechtlich bestehenden Spielräume geprüft werden. Neben den Möglichkeiten beschleunigter Beschaffungen sollte auch ein Rückgriff auf bereits bestehende Vertragsverhältnisse oder die Vergabe von zeitlich befristeten Aufträgen zur interimsweisen Bedarfsdeckung in Betracht gezogen werden.
Möglichkeiten beschleunigter Beschaffungen
Sollte weder ein gesetzlicher Ausnahmetatbestand gegeben noch der Rückgriff auf bestehende Vertragsverhältnisse oder Interimsvergaben in der gegebenen Konstellation im Rahmen der rechtlichen Vorgaben – siehe dazu unten – möglich sein, existieren im Vergaberecht verschiedene „Stellschrauben“ für die Durchführung beschleunigter Beschaffungen in der gegenwärtigen Krisensituation.
a) Verkürzung von Regelfristen aus Gründen der Dringlichkeit
Effektives Werkzeug, um Beschaffungsvorhaben bei dringenden Bedarfen zu beschleunigen, ist die Verkürzung von Mindestfristen (Regelfristen). Abhängig von der Verfahrensart kann eine Verkürzung der Frist zur Einreichung von Teilnahmeanträgen (Teilnahme- bzw. Bewerbungsfrist) und / oder von Angeboten (Angebotsfrist) in Betracht kommen.
Für die einzelnen Verfahrensarten bedeutet das:
Im Falle einer hinreichend begründeten Dringlichkeit kann eine Verkürzung der Regelfristen auf insgesamt 15 Tage gerechnet ab dem Tag nach Absendung der elektronischen Auftragsbekanntmachung bzw. 10 Tage gerechnet ab dem Tag nach der Aufforderung zur Angebotsabgabe erfolgen (sog. beschleunigtes Verfahren). Dabei müssen objektiv nachvollziehbare Gründe vorliegen, die eine beschleunigte Vergabe notwendig machen, etwa weil der Beschaffungsbedarf kurzfristig gedeckt werden muss. Eine solche Dringlichkeit dürfte im Falle der aktuellen Krisensituation objektiv gegeben sein.
Das BMWI vertritt im Rundschreiben darüber hinaus die Auffassung, dass die äußerst dringlichen zwingenden Gründe infolge der Coronakrise zulässigerweise im Einzelfall auch zu einer weiteren Verkürzung der Angebotsfrist im Rahmen von Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb von unter 10 Kalendertage führen können. Denkbar sei nach Würdigung der Gesamtumstände sogar eine Verkürzung bis hin zu 0 Tagen.
b) Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb
Als weiteres Instrument zur erheblichen Beschleunigung von Beschaffungsvorhaben steht das Verhandlungsverfahren ohne vorherigen Teilnahmewettbewerb zur Verfügung, welches keiner europaweiten Bekanntmachung bedarf und zudem Verhandlungen sowohl über die Leistungsinhalte als auch die kommerziellen Aspekte der Angebote ausdrücklich ermöglicht. Der öffentliche Auftraggeber kann also unmittelbar an Unternehmen herantreten und zur Abgabe von Angeboten sowie Teilnahme an Verhandlungen auffordern.
Da in diesem Verfahren der Wettbewerb wesentlich eingeschränkt wird, ist das Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb gemäß § 14 Abs. 4 VgV nur bei Vorliegen der Voraussetzungen eng auszulegender Ausnahmetatbestände zulässig. Infolge der derzeitigen Krisensituation ist der Ausnahmetatbestand des § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV in Betracht zu ziehen. Danach kann das Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb gewählt werden, wenn
„äußerst dringliche, zwingende Gründe im Zusammenhang mit Ereignissen, die der betreffende öffentliche Auftraggeber nicht voraussehen konnte, es nicht zulassen, die Mindestfristen einzuhalten, die für das offene und das nicht offene Verfahren sowie für das Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb vorgeschrieben sind; die Umstände zur Begründung der äußersten Dringlichkeit dürfen dem öffentlichen Auftraggeber nicht zuzurechnen sein“.
Nach dem Rundschreiben des BMWI liegen die Voraussetzungen des § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV im Fall der Coronakrise ausdrücklich vor. Demnach können
„Heil- und Hilfsmitteln wie etwa Desinfektionsmittel, Einmalhandschuhe, Masken, Schutzkittel, Verbandsmaterialien, Tupfer, Bauchtücher und medizinisches Gerät wie etwa Beatmungsgeräte sowie für in diesen Krisenzeiten notwendige Leistungen (etwa mobiles IT-Gerät z.B. zur Einrichtung von Homeoffice-Arbeitsplätzen, Videokonferenztechnik und IT-Leitungskapazitäten)“
im Rahmen eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb beschafft werden. In dem Rundschreiben des BMWI wird darauf hingewiesen, dass die Aufzählung nicht abschließend ist, so dass auch anderweitige Anwendungsfälle denkbar sind. Allerdings ist damit auch deutlich gemacht, dass nicht jegliche Art von Beschaffungsbedarf mit dem Verweis auf die aktuelle Krisensituation auf diese Weise vereinfacht vergeben werden kann.
Grundsätzlich muss auch im Falle einer Verhandlungsvergabe nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV sichergestellt sein, dass mindestens drei geeignete Unternehmen zur Abgabe eines Angebots und zur Teilnahme an Verhandlungen aufgefordert werden, was auch die Hinweise im Rundschreiben des BMWI vom 19. März 2020 ausdrücklich bestätigen. Nur in absoluten Ausnahmefällen kann auch lediglich mit einem Unternehmen in Verhandlungen über einen Auftrag eingetreten werden.
Rückgriff auf bestehende Vertragsverhältnisse oder Interimsvergaben
Selbst wenn kein gesetzlicher Ausnahmetatbestand in der gegebenen Konstellation greifen sollte, ist in der gegebenen Krisensituation zu empfehlen, dass zur Deckung dringender Bedarfe auch der Rückgriff auf bestehende Vertragsverhältnisse oder den Abschluss von (zeitlich befristeten) Verträgen zur interimsweisen Bedarfsdeckung in Betracht gezogen werden.
a) Ausschöpfen bestehender Vertragsverhältnisse
Bestehen bereits Leistungsverträge mit Auftragnehmern, sollten diese bestmöglich genutzt werden, um kurzfristige Bedarfe nach Möglichkeit zu decken. Einerseits sollten gegebenenfalls vertraglich vorgesehene Optionen zur Abnahme von Mehrmengen oder zur Vertragsverlängerung geprüft und gegenüber dem Auftragnehmer unter Beachtung der festgelegten Formvorgaben ausgeübt werden. Bei Rahmenvereinbarungen sollte geprüft werden, ob weitere Leistungen durch Einzelabrufe unter dem bestehenden Vertragsverhältnis zur Deckung der Bedarfe an den (einzelnes Unternehmen) bzw. die (mehrere Unternehmen) Auftragnehmer beauftragt werden können.
Dabei ist die Grenze des § 132 GWB zur Bewertung der Zulässigkeit der Ausschöpfung bestehender Vertragsverhältnisse zu beachten, wobei die Regelung auch für Rahmenvereinbarung zur Anwendung kommt (vgl. ausdrücklich VK Bund, Beschl. v. 29. Juli 2019 – VK 2-48/19). Ein Überschreiten einer festgelegten Obergrenze in einer Rahmenvereinbarung oder eine nachträgliche Änderung eines bereits bestehenden Leistungsvertrages muss daher immer an den Vorgaben des § 132 GWB gemessen werden.
- Zum einen kann die sog. Bagatellgrenze des 132 Abs. 3 GWB nutzbar gemacht werden, um den ursprünglichen Auftragsumfang um bis zu 10 Prozent (Liefer- und Dienstleistungsaufträge) bzw. 15 Prozent (Bauaufträge) zu erweitern, sofern mit dem Auftragswert einer solchen Nachbeauftragung der maßgebliche Schwellenwert nicht überschritten wird. Eine nachträgliche Änderung in Form einer Erweiterung des Auftrags kann sich dabei sowohl auf den Umfang des Beschaffungsvolumens als auch auf die Art der Leistungen beziehen.
- Doch selbst bei Überschreiten dieser sog. Bagatellgrenze kann in der gegebenen Konstellation eine nachträgliche Erweiterung bestehender Vertragsverhältnisse ohne Auslösen einer Ausschreibungspflicht nach Maßgabe von § 132 Abs. 2 Nr. 3 GWB in Betracht kommen. Gemäß dem Rundschreiben des BMWI vom 19. März 2020 wird die Unvorhersehbarkeit der aktuellen Krisensituation im vergaberechtlichen Sinne bestätigt und von der Anwendbarkeit des Ausnahmetatbestands des § 132 Abs. 2 Nr. 3 GWB ausgegangen. Damit kann der ursprünglichen Auftragsumfang um bis zu 50 Prozent (Liefer- und Dienstleistungs- sowie Bauaufträge) erweitert werden. Eine solche Auftragsänderung ist gemäß § 132 Abs. 5 GWB aus Transparenzgründen im Amtsblatt der EU bekannt zu machen.
b) Abschluss von zeitlich befristeten Verträgen zur interimsweisen Bedarfsdeckung
Im Rahmen sog. Interimsaufträge kann der öffentliche Auftraggeber unter engen Voraussetzungen einen zeitlich befristeten Auftrag entweder durch Verlängerung eines bestehenden Vertrages oder aber Neuabschluss eines Vertrages vergeben, ohne ein grundsätzlich erforderliches Vergabeverfahren durchführen zu müssen. Zielsetzung ist die Sicherstellung einer kontinuierlichen Leistungserbringung durch Deckung kurzfristiger Bedarfe bis zum Abschluss des erforderlichen Vergabeverfahrens zur Neuausschreibung des Leistungsumfangs.
Mangels ausdrücklicher Regelung wird die Vergabe sog. Interimsaufträge als Verhandlungsverfahren ohne vorherigen Teilnahmewettbewerb nach Maßgabe von § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV durchgeführt. Im Rundschreiben des BMWI vom 19. März 2020 wird ausdrücklich festgehalten, dass trotz der Krisensituation im Sinne einer effizienten Verwendung von Haushaltsmitteln nach Möglichkeit mehrere Unternehmen zur Angebotsabgabe aufzufordern sind. Allerdings kann angesichts der erheblichen Herausforderungen zur Sicherstellung wesentlicher Funktionen der öffentlichen Hand für bestimme Beschaffungsbereiche auch lediglich ein Unternehmen aufgefordert werden.
Allerdings ist bei sog. Interimsvergaben sicherzustellen, dass es sich um zeitlich begrenzte Aufträge handelt, deren Gültigkeit auf einen Zeitraum zu begrenzen ist, der für eine ordnungsgemäße Vergabe von Leistungen in einem formellen Vergabe- bzw. Auswahlverfahren erforderlich ist.
Für sämtliche aufgezeigten haushalts- und vergaberechtlichen Spielräume gilt, dass aufgrund des Ausnahmecharakters eine ordnungsgemäße Dokumentation der hinter dem Vorgehen stehenden Erwägungen erforderlich ist. Vor dem Hintergrund der aktuellen Krisensituation und der angespannten personellen Lage bei vielen öffentlichen Stellen sind allerdings auch keine übermäßigen Anforderungen an den Umfang der Dokumentation der einschlägigen Voraussetzungen zu stellen.
Auch Janina Heidemann, eine ehemalige Mitarbeiterin aus unserem Münchner Büro, hat zu diesem Artikel beigetragen.